In der Sowjetunion bildete sich eine paradoxe Situation heraus: während in der Politik die Linie Wladimir Lenins siegte, so errang in der Philosophie die Linie Georgij Plechanows den Sieg. Durch die Anstrengungen der Schüler des letzteren wurde die Dialektik nicht als Methode, sondern als „Ontologie“ verstanden. Der ungarische Marxist Georg Lukács, der dagegen ein Verfechter Lenins war, behauptete, dass die Dialektik als revolutionär anzusehen sei, die zur Dialektik des Klassenbewusstseins und der revolutionäre Praxis geführt wird. Das verstanden weder die vormarxistischen Materialisten noch die Mehrheit der sowjetischen „Diamatler“. Der Marxismus in der UdSSR verwandelten sich in einen „dialektischen Materialismus“, der nicht so sehr auf den Lehren von Hegel und Marx, sondern auf denen der französischen Materialisten und Feuerbachs beruhte. Dialektik ist kein Schema, das in gleicher Weise sowohl auf die Natur als auch auf die Geschichte angewandt werden kann. Nach Auffassung Lukács‘ kann sie überhaupt nicht auf die Natur angewandt werden. Die Dialektik ist Logik und Theorie der Erkenntnis des historischen Materialismus. Wegen dieser These wurde Lukács des Idealismus bezichtigt.
In der Arbeit Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewusstsein“ beinhaltet die dialektische Methode zwingend die Dialektik des Subjekts und des Objekts, deshalb ist ihre Anwendung auf die Natur nicht möglich. Ein Subjekt kann nur in der Geschichte gefunden werden. Die dialektische Methode kann nicht auf die Natur angewandt werden, aber sie kann auf die Wissenschaft angewandt werden, die die Natur studiert. Die Aufgabe von Marxisten besteht darin, die Wissenschaftler mit Hilfe der Dialektik dabei zu unterstützen, eine eigene Methode zu erarbeiten. Wenn man beginnt, sie auf die Natur anzuwenden, so bedeutet das, dass man sich Hegel anpasst, der meinte, dass der Weltgeist sich zuerst in der Natur entäußert und dann in der Geschichte. Zum Beispiel merkt der russische Marxist Sergej Marejew an, dass die Natur nach Hegel der „in feste Ablagerung niedergefallene Geist“ sei, der für seine Selbsterkenntnis die Geschichte braucht, in dem aber bestimmte Erscheinung des Subjektstatus bereits vorhanden sind. Deshalb waren die verborgenen Idealisten diejenigen, die Lukács dessen beschuldigten, zum Beispiel Boris Bessonow und Igor Narskij.
„In der Folge der Gleichsetzung der Hegelschen und der Marxschen dialektischen Methoden trug das Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“ in seinen grundlegenden philosophischen Anlagen den Stempel des Idealismus“, schreiben sie über Lukács. „So hat G. Lukács während er die Existenz der Dialektik der sozialen Prozesse anerkennt, zumindest der Dialektik der vom Subjekt unabhängigen Naturprozesse keine Bedeutung beigemessen, wen er eine solche nicht überhaupt verworfen hat. Dies resultiert daraus, dass er in der Dialektik die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt für die Hauptsache hält und somit das Objekt (darunter das Objekt Natur) als zutiefst soziale Kategorie behandelt, das heißt er hat in den Begriff des Objekts nur das aus seinem Gehalt aufgenommen, das sich dann und in dem Maße äußert, wenn und in dem Maße wie das Objekt in eine Wechselwirkung mit dem Subjekt „einbezogen“ ist. Unterdessen haben Marxisten schon lange den dialektischen Charakter der Entwicklung der Naturprozesse außerhalb ihrer Beziehungen mit der Gesellschaft und den Menschen gezeigt. Was das von der Gesellschaft Unabhängige der Natur betrifft, so kann nur äußerster Idealismus es in Zweifel ziehen.“ (B.N. Bessonow, I.S. Narskij, „György Lukács“, Moskau 1989, S. 12-13).
Aber dennoch hatte Lukács recht und nicht die, die ihn kritisierten. Er leugnete die Objektivität der Existenz der Natur keineswegs. Der ungarische Marxist sprach nur davon, dass die Natur nicht getrennt von der Gesellschaft betrachtet werden darf. Die Natur ist eine soziale Kategorie in dem Sinne, dass der Mensch sie nicht unmittelbar erkennt, sondern vermittelt, durch die Arbeit. In der Geschichte erfolgt eine Aufhebung der Natur, die bereits in Form von Produktionstechniken existiert. Dem historischen Materialismus liegt nicht die Natur als solche zugrunde, sondern der Prozess ihrer Veränderung. Andernfalls ist es nicht möglich, das Problem der Kontemplation zu lösen, das ein Defizit des gesamten vormarxistischen Materialismus einschließlich des Feuerbachschen ist.
Das Verdienst von Marx und Engels besteht in der Entdeckung eines materialistischen Begriffs der Geschichte. Aber Bessonow, Narskij und weitere sowjetische „Diamatler“ reproduzieren genau die Fehler, auf die Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ hingewiesen hatten, als sie Feuerbach kritisierten. „Soweit Feuerbach Materialist ist“ schrieben sie, „kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er kein Materialist. Bei ihm fallen Materialismus und Geschichte ganz auseinander…“ (K. Marx, F. Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 45). Tatsächlicher Materialismus ist der Materialismus, dem die Praxis zugrunde liegt. Andernfalls handelt es sich um getarnten Idealismus.
Dabei trat Lukács dagegen auf, dass unter Praxis ein Experiment oder Industrie verstanden wird. In der bürgerlichen Gesellschaft verbirgt sich dahinter die Ausbeutung der Arbeit. Aber auch der Kapitalist tritt nicht als echtes Subjekt der Geschichte auf. Er handelt nicht, sondern ist selbst nur ein Objekt einer Handlung, ein Agent der kapitalistischen Produktion. Deshalb besteht Lukács gerade auf der revolutionären Praxis, deren Träger nur das Proletariat ist. Wirklich revolutionär ist die Dialektik, die historische Dialektik ist, die die Entwicklung der Gesellschaft von ihrem Beginn bis hin zum Kommunismus betrachtet, wenn sie zur Anerkennung des Klassenkampfes, der Diktatur des Proletariats gelangt.
Das Proletariat seinerseits betritt dann den Weg des Klassenkampfes, wenn es es seine Lage in der Gesellschaft erkennt. Das Wesen der gesellschaftlichen Lage des Arbeiters liegt darin, dass er eine Ware ist. Und wenn der Proletarier das erkennt, erhebt es sich gegen den Kapitalismus, wobei es die Partei unterstützen muss. Die politische Partei ist nicht anderes als eine Form des Klassenbewusstseins des Proletariats. „Die Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins (also: die Entwicklung der proletarischen Revolution) und die der kommunistischen Partei sind zwar — weltgeschichtlich betrachtet — ein und derselbe Prozeß“, erklärte der ungarische Marxist (G. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstein, Berlin 1923, S. 88). Nur das Bewusstsein der Arbeiterklasse kann einen Ausweg aus der Krise des Kapitalismus zeigen. Wenn es dieses Bewusstsein, d.h. die Partei, nicht gibt, kann die Krise sich fortsetzen.
Ein solches Verständnis des Bewusstseins wurde dank Marx möglich, der es als erster ein „gesellschaftliches Produkt“ nannte und nicht beispielsweise ein „Produkt des Hirns“. Letzteres ist charakteristisch für den naturwissenschaftlichen Materialismus, der sich in der Sowjetunion unter der Bezeichnung „Diamat“ verbarg. Lenin entwickelte die Marxsche Idee wesentlich. Er meinte, dass das Proletariat im Zusammenhang damit, dass die Klassengesellschaft sich ungleichmäßig entwickelt, nicht in der Lage ist, selbständig ein eigenes Bewusstsein herauszubilden. Das Klassenbewusstsein des Proletariats erzeugen seine Ideologen und bringen es in die Massen ein. Gerade dafür bilden sich die Parteien und nicht nur zur Ergreifung der Macht. Den Leninschen Gedanken setzt Lukács fort, der die Partei die „Gestalt des proletarischen Bewusstseins“ nannte.
Der ungarische Marxist hielt die These für unrichtig, dass gerade die Partei die Revolution machen muss. Nach seinen Worten ist sie nur in der Lage, die vorzubereiten. Dazu muss sie auf der einen Seite mit ihrem Einfluss auf das Proletariat das Heranreifen von revolutionären Tendenzen unterstützen und auf der anderen Seite dieses selbst auf die Revolution vorbereiten. In der Arbeit „Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken“ verweist Georg Lukács auf zwei Extreme. So meinte Karl Kautsky, dass die Partei eine Voraussetzung der Revolution sei, Rosa Luxemburg dagegen nannte sie ein Produkt der revolutionären Bewegung der Massen. Beide Thesen sind unrichtig.
Die Aktivität der Partei „ist kein stellvertretendes Handeln für die Klasse“, schreibt Lukács, „sondern das Aufgipfeln des Handelns der Klasse selbst. Die Partei, die die proletarische Revolution zu führen berufen ist, tritt deshalb nicht fertig an ihren Führerberuf heran: auch sie ist nicht, sondern sie wird. Und der Prozeß der fruchtbaren Wechselwirkung zwischen Partei und Klasse wiederholt sich – freilich verändert – in der Beziehung der Partei zu ihren Mitgliedern“ (Georg Lukács, Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken, Wien 1924, Kap. III, Die führende Partei des Proletariats).
Lukács erinnert daran, dass die Partei, wie alle Menschen, ein „Produkt der Umstände und der Erziehung“ ist, also ändert sich mit der Änderung der Bedingungen auch die Partei. Sie lehrt nicht nicht nur die Massen, sondern lernt selbst auch von den Massen. Die Partei wird die führende Rolle nur in dem Fall ausüben können, wenn sie den kämpfenden Massen einen Schritt voraus ist, ihnen den Weg zeigt. Aber nur einen Schritt, sonst wird die Partei nicht in der Lage sein, den Kampf zu führen. Dazu ist es notwendig, die Theorie in „der konkreten Analyse der konkreten Situation“ zu entwickeln. Leider vergessen dies die heutigen Kommunisten nicht selten und verfallen in Extreme wie Kautsky und Luxemburg. Das Studium der Arbeiten des herausragenden ungarischen Marxisten Georg (György) Lukács wird dabei helfen, sie zu vermeiden.
Stanislaw Retinskij, Sekretär des ZK der KP der DVR