„Wenn keine linke Wende stattfindet, ist die Alternative dazu ein Schwenk nach rechts. Und ein Krieg aller gegen alle“. Der Vorsitzende der KP der DVR Boris Litwinow über die Sommerproteste, Nawalnyj, die „Kluge Abstimmung“ und die Zukunft des Kommunismus

Am 8. September fand ein Russland ein einheitlicher Wahltag statt. Die KPRF hat bei den Wahlen zum Moskauer Stadtrat ein beeindruckendes Ergebnis erzielt: bisher hatte die Partei fünf Mandate, jetzt sind es 13. Experten bringen dies sowohl mit Proteststimmen in Zusammenhang als auch damit, dass der Hauptoppositionelle Russlands Alexej Nawalnyj aufrief, für die Kommunisten zu stimmen.

Ob Nawalnyj einen Einfluss auf das Ergebnis der KPRF hatte, erörterte „Antifaschist“ mit dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei der DVR Boris Litwinow. Außerdem sprachen wir über die Ereignisse, die dem Wahltag vorangingen – die Sommerproteste der Opposition in Moskau.

Außerdem kehrten wir in die Vergangenheit zurück – wir erläutern, warum die Kommunistische Partei der Ukraine eine passive Rolle im Jahr 2014, als im Land ein Staatsstreich stattfand, eingenommen hat und wie es ihr danach erging; außerdem warfen wir einen Blick in die Zukunft, um zu verstehen, ob es für die kommunistische Ideologie im 21. Jahrhundert eine Perspektive gibt.

Der zweite Teil unseres großen Interviews mit dem Vorsitzenden der KP der DVR Boris Litwinow (erster Teil hier).

„Parteibüros wurden verwüstet und in Brand gesetzt, Aktivisten ins Gefängnis geworfen. Und natürlich banale Bestechung“ — über die Ursachen des Zerfalls der Fraktion der Kommunisten in der Rada im Jahr 2014, die „verbotene“ KPU und die Gründung der KP der DVR

— Boris Alexejewitsch, im Oktober wird die Kommunistische Partei der DVR fünf Jahre alt. Im Jahr 2014 haben Sie sich von der KPU abgespalten und ich möchte ein wenig über jene Ereignisse sprechen. Wie ist es geschehen, dass sich die KPU, eine recht mächtige, hervorragend strukturierte Partei, mit dem Staatsstreich in Kiew im Jahr 2014 abgefunden hat? Und sich nicht nur abgefunden hat, sondern für Gesetze stimmte, die die Nationalisten beschlossen, die die Macht ergriffen haben? Warum ist die Partei nicht deutlich dagegen aufgetreten, warum hat sie die Oberste Rada nicht verlassen, und so wenigstens teilweise Turtschinow legitimiert?

— Im November 2013, als die Ereignisse auf dem Maidan erst anfingen, war ich in Kiew auf einer Dienstreise. Damals erschien es sowohl mir als auch unseren Genossen, dass diese Aktion einen gewissen Sinn hat. Auf dem Maidan trat man gegen Oligarchen, gegen Janukowitsch und seine nächste Umgebung auf, die das Land offen ausplünderten. So stellte sich das zuerst dar und es erschien in einer solchen Deutung vollständig richtig und annehmbar. Es schien, dass sich darauf ein antioligarchischer Protest herauskristallisieren könnte. Natürlich mahnte die antirussische Rhetorik zur Vorsicht, aber damals war eine Fortsetzung des Themas Antikapitalismus, Antioligarchie wünschenswert. Dann begann das zutiefst nationalistische Züge anzunehmen. Und als auf der Krim und dann bei uns Ereignisse einer Annäherung an Russland begannen, gab es innerhalb der KPU unterschiedliche Meinung diesbezüglich. Ich war an diesen Diskussionen beteiligt. Ein Teil unserer Genossen sagte, dass im Westen der Ukraine und im Zentrum die Einstellungen der Bevölkerung nationalistisch seien, die Menschen die Nationalisten unterstützten, den Maidan, dass aber unsere Genossen aus den westlichen Oblasten dort arbeiten müssen, einfach dort leben müssen. Deshalb dürfe man sich nicht in eine direkte Konfrontation mit den örtlichen Einwohnern begeben, weil sie dann dafür einfach umgebracht werden könnten. Aber! Selbst hier, in Donezk, im Epizentrum des Protestes, gab es in der KP auch unterschiedliche Einstellungen. Der ehemalige erste Sekretär des Oblastkomitees Krawtschenko hat unsere Protestbewegung nicht akzeptiert, er beschuldigte die Sekretäre der Stadtkomitees, der Bezirkskomitees, dass sie sich unangemessen aktiv in diesen Kampf einschalten, und so, nach seiner Meinung, die Zerstörung der Ukraine beförderten. Bei allen ideologischen Konflikten musste seiner Meinung nach die Ukraine ihre Integrität erhalten und wir würden mit unseren Aktivitäten einen Sprengsatz unter die Kommunistische Partei legen. Und damals begann schon die Bewegung zum Zerfall der Partei auf Staatsebene und eine Schwächung der Partei von innen heraus.

Ein Teil der Abgeordneten der KPU begannen die Reihen der Partei und der Fraktion zu verlassen und schwächten schon damals, in der ersten Hälfte des Jahres 2014, die Fraktion. Es verließen die Reihen der Fraktion Alexejew, Golub, Samojlik, Kapetnik und andere. Von 33 Abgeordneten der Obersten Rada, Mitgliedern der KPU, bleiben nur 23 in der Fraktion. Später wurden der erste Sekretär des Donezker Oblastkomitees Krawtschenko und der zweite Sekretär Bidjowka aus der Partei ausgeschlossen. Nach der Unterbindung der Arbeit der Fraktion in der Obersten Rada wurde die Bedeutung der Fraktion und der Partei im Parlament minimal. Nun und weiter folgte das Gesetz über die Dekommunisierung und das faktische Verbot der Partei.

— Also haben sich die Fraktion und die Partei von innen heraus aufgelöst? Noch vor Annahme des Gesetzes über die Dekommunisierung?

— Die Fraktion in der Obersten Rada, ja. Aber die Partei hat sich nicht aufgelöst, aber unter Druck der profaschistischen Regierung ist sie erheblich geschwächt worden. Dennoch, um in der heutigen Ukraine Kommunist zu sein, ist Mut notwendig, das ist wie im städtischen Untergrund unter der faschistischen Besatzung während des Kriegs zu arbeiten.

— Dennoch, worin lag die Ursache des Zerfalls der Fraktion in der Obersten Rada?

— Es gab unterschiedliche Ursachen. Das war sowohl die Angst von den Ereignissen im Land, banale Angst vor den Straftruppen der Regierung auf der Straße. Parteibüro, einschließlich des ZK, wurden verwüstet und in Brand gesetzt, Aktivsten festgenommen, ins Gefängnis geworden, umgebracht, Mitglieder der Partei und ihre Verwandten wurden total eingeschüchtert. Das und die Überzeugung, dass die Ukraine unter allen Umständen intakt bleiben muss, zu solchen Überzeugungen bekannte sich beispielsweise Krawtschenko. Das und persönliche Interessen, weil wenn man ein, zwei oder mehr Perioden hintereinander in der Obersten Rada verbracht hat, sich Verbindungen verschafft hat, einen Status in der Gesellschaft, ein Einkommensniveau, Eigentum, Abgeordnetenrenten und so weiter – und all dies in einem Augenblick zusammenbrechen kann. Man hätte ihnen all das entziehen können, wenn sie irgendeine Aktivitäten in Richtung eines aktiven Kampfes gegen das Regime begonnen hätten, wenn sie gegen den siegreichen Maidan vorgegangen wären. Und natürlich banale Korruption.

Im März 2014 fand bei uns in Donezk ein Parteitag im Kujbyschew-Kulturpalast statt.

Damals zog der Parteitag den alarmierenden Schluss, dass in der Ukraine endgültig ein nationalfaschistisches Regime installiert worden war. Die anfängliche Hoffnung darauf, dass im Land ein soziale Revolution mit Ablösung des gesellschaftlich-politischen Aufbaus erfolgen könnte rechtfertigte sich nicht. Der Parteitag stellte die Aufgabe, die Partei und ihre Strukturen, Kader zu erhalten, die Verbindungen mit den Massen zu stärken, den Menschen die Wahrheit über das Wesen des erfolgten Staatsstreich zu erklären. Obwohl es auch andere Interpretationen der im Land erfolgten Ereignisse gab, wurde beschlossen, die Partei als einheitliche Organisation zu erhalten. Aber die Ereignisse im Land entwickelten sich selbst zielstrebig und die Entscheidungen, die sagen wir einen Monat zuvor getroffen worden waren, erforderten eine Umorientierung und neue Entscheidungen. Im Mai, bereits nach der Ausrufung der DVR und der Durchführung des Referendums, an dem die Kommunisten des Donezker Oblast eine höchst aktive Beteiligung, ich würde sagen in vielen Moment eine für den Erfolg entscheidende Beteiligung, zeigten, wurde mir und vielen Parteiaktivisten bewusst, dass wir hier in Donezk bis zum Ende gehen werden. Deshalb trafen wir, um die Beschuldigung der Unterstützung des aufständischen Donbass von der Partei zu nehmen, um niemanden zu gefährden, die Entscheidung, vorbereitende Arbeiten zur Gründung einer Kommunistischen Partei der DVR zu betreiben. So wurde die KP der DVR gegründet. Wir taten dies deswegen, um die Beschuldigung „separatistischer Bestrebungen“ von der gesamten Kommunistischen Partei der Ukraine zu nehmen. Aber bereits damals wurde trotz unserer Schritte von der Regierung ein echter Krieg zur Vernichtung gegen die KPU organisiert. Die Partei war gezwungen, in die Halblegalität zu gehen und oft praktisch in den Untergrund. Damals fuhr ich nach Moskau, zu Genossen aus der KPRF, dann traf ich mich mit Sjuganow, erläuterte unsere Position. Ich überzeugte mich davon, dass die KPRF und ihr Vorsitzender den von uns gewählten Weg unterstützten. Er setzte sich mit Genossen aus der KPU in Verbindung. Nicht alle, dass sage ich direkt, nahmen die Idee der Gründung einer KP der DVR positiv auf, aber objektiv war es so richtig und besser. Im Oktober 2014 führten wir einen Gründungsparteitag durch und nun ist unsere Partei schon fünf Jahre alt.

— Haben Sie derzeit Beziehungen zu den ukrainischen Kommunisten?

— Ja, das haben wir. Wir treffen uns mit ihnen in Moskau. Alle Kommunisten der ehemaligen Unionsrepubliken, und jetzt sind das noch die LDVR, Abchasien, Ossetien und Transnistrien, wir sind alle in einem Team, wir sind alle Mitglieder der Organisation SKP-KPSS – Union der kommunistischen Parteien der Sowjetunion. Dies ist eine internationale Organisation, die in Moskau registriert ist, die von Gennadij Andrejewitsch und seinem ersten Stellvertreter Kasbek Tajsajew, Abgeordneter der Staatsduma Russlands, der sehr oft bei uns in der Republik ist, geleitet wird. Er leistet uns Unterstützung. Also, wir alle sind Teil einer gemeinsamen kommunistischen Bewegung, die das gesamte Territorium der ehemaligen UdSSR umfasst. Und dort, auf Veranstaltung der SKP-KPSS treffen wir uns. Vor kurzem war dort ein Plenum, im Juli, dort haben wir uns mit Pjotr Simonenko und Georgij Krjutschkow getroffen. Wir haben auch Beziehungen mit dem Donezker Oblastkomitee der Partei, dass derzeit auf dem von der Ukraine kontrollierten Territorium basiert ist. Von Zeit zu Zeit kommt von dort ein Vertreter, nimmt an unseren Veranstaltungen teil, trifft sich mit unserem Aktiv, außerdem haben wir Beziehungen zu den Sekretären der Kommunistischen Partei der Ukraine aus anderen Regionen, aus verständlichen Gründen kann ich keine Namen nennen. Wir unterhalten uns über Skype, Messanger, wir tauschen verschiedene Informationen aus. Sie haben es dort jetzt schwerer als wir hier, sie befinden sich praktisch im Untergrund wie zur Zeit der faschistischen Besatzung der Ukraine während des Großen Vaterländischen Kriegs. Aber der Kampf gegen das Regime geht weiter. Ich meine, dass es in der Ukraine heute keine politische Kraft außer der KPU gibt, die objektiv und furchtlos dem Volk das Wesen des Geschehens erklärt, mit den zugänglichen Methoden kämpft, zum Kampf gegen das profaschistische Regime der Ukraine aufruft.

— Als existiert die Partei trotz des Verbots?

— Ja. Praktisch im Untergrund. Jetzt haben sie, die Kommunisten der Ukraine die letzte Chance, ihre schwierige Lage auf juristischem Weg zu ändern. Das Verfassungsgericht hat vor kurzem die Rechtmäßigkeit des Gesetzes über die Dekommunisierung und das Verbot der Kommunistischen Partei als solches bestätigt. Und haben die KPU und ihr Vorsitzender Simonenko eine letzte Instanz, wo er das anfechten kann – das ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Ich weiß, dass Juristen mit sozialistischer Orientierung in Europa diese Frage betreuen und bereits sind beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Interessen der KPU zu vertreten. Sehen wir, wie es gelingt, aber eine Hoffnung auf europäischen gesunden Menschenverstand gibt es noch. Man muss alle Chancen nutzen.

„Ich möchte, dass die Menschen in der DVR klug werden“ — über die KPRF, Alexej Nawalnyj, „Kluge Abstimmung“ und die Zukunft des Kommunismus

— Sprechen wir über die russischen Kommunisten. Am 8. September fanden in Russland Wahlen statt. Den ganzen Sommer fieberte Moskau, Anhänger Alexej Nawalnyj, Menschen die mit der Nichtzulassung von Kandidaten zu den Wahlen nicht einverstanden waren, gingen zu Protestaktionen, auch die KPRF führte Kundgebungen durch. Am 8. September haben die Kommunisten ihr Ergebnis bei den Wahlen in den Moskauer Stadtrat verdreifacht, Experten bringen das mit der „Klugen Abstimmung“, die von Nawalnyj angeregt wurde, in Zusammenhang. Wie bewerten Sie den Einfluss der „Klugen Abstimmung“ auf das Ergebnis der KPRF?

— Ja, ich habe diese Wahlen in Russland aufmerksam verfolgt, ich war auf Kundgebungen der KPRF in Moskau. Zu den Ergebnissen: Sie sind besser als in den letzten Jahren. Die KPRF hat jetzt 13 Mandaten im Moskauer Stadtrat, vorher waren es fünf. Aber nach der Ernennung von Andrej Klytschkow zum kommissarischen Gouverneur der Oblast Orjol und seiner darauf folgenden Wahl arbeiteten im Moskauer Stadtrat praktisch vier Abgeordnete der KPRF. Jetzt sind es 13. Praktisch in allen Regionen wurden die Zahlen auf das doppelte verbessert und in einigen mehr. Ich verbinde das damit, dass es in der russischen Gesellschaft einen Bedarf für eine linke Wende gibt. In der KPRF gibt es auch unterschiedliche Menschen: einige sagen, dass es nicht notwendig ist, die Situation zu untergraben, die Menschen aufzurütteln, dass man gemeinsam mit der Regierung gehen muss. Aber die Mehrheit der Parteimitglieder und ihrer Anhänger steht auf ihren strategischen Positionen, ändern ihre Überzeugungen nicht, vertreten reale Interessen, lösen Probleme der Bürger nicht nur vor Wahlen, sondern auch in der täglichen Arbeit. Und das bringt Ergebnisse.

— Und was heißt – die Situation nicht zu untergraben?

— Es gibt Menschen, die meinen, dass man nicht laut sagen darf, welche Verstöße die Staatsorgane bei einem Wahlvorgang zulassen, beispielsweise. Es wird vorgeschlagen, das einfach nicht zu bemerken. Ich denke und das denken viele in der Partei, dass es unbedingt notwendig ist, die Aufmerksamkeit auf die Manipulation des Bewusstseins der Bevölkerung bei Wahlen zu ziehen. Und das geschieht ja nicht zu ersten Mal, schon seit vielen Jahren werden manipulative Technologien bei den sogenannten demokratischen Wahlen eingesetzt. In vielen Ländern, sowohl in westlichen als auch in östlichen und im postsowjetischen Raum setzen die Staatsorgane Methoden ein, die zu einer Diskreditierung des Wahlprozesses führen. Wir hatten in der Ukraine ständig damit zu kämpfen, in all diesen Jahren. Deshalb ergibt es einen bestimmten Effekt, die Aufmerksamkeit der Menschen darauf zu lenken. Die Verstöße, so sagen die Genossen, waren während dieser Wahlen weniger, in jedem Fall wurde extrem grobe, so wie es früher war, nicht festgestellt. Aber das letzte Wort über Verstöße und ihren Einfluss auf die Wahlen wird natürlich der juristische Dienst der KPRF haben. Sie verfügen über die gesamten Informationen. Und dann wird wohl das Plenum des ZK der KPRF eine vollständige Bewertung des vergangenen Wahlprozesses geben.

Aus meiner Sicht will die Staatsmacht in Russland, dass ihre Sauberkeit, ihre Legitimität gewährleistet ist. Weil von der Sauberkeit der Wahlen die Legitimierung der Staatsmacht abhängt. Wenn man das mit schmutzigen Händen tut, so wird es keine Legitimität geben, es wird Legalität geben – in die Protokolle kann man alles schreiben, was passt – aber es wird keine Legitimität geben, das hießt eine Anerkennung durch das Volk. Heute braucht es die russische Staatsmacht, dass das Volk ihr wieder vertraut. Die Situation in der Wirtschaft ist nicht einfach, in der Außenpolitik wird Russland stärker, aber im Inneren sind Streit und Unschlüssigkeit sehr groß. Innerhalb Russlands werden aus meiner Sicht verschiedene Einflussgruppen in den Staatsorganen auf jeden Fall bald Auseinandersetzungen untereinander haben, aber aus unserer, der kommunistischen Sicht, kann nur eine linke Wende Russland retten. Wenn keine linke Wende erfolgt, so ist die Alternative dazu ein Schwenk nach rechts, der im Ergebnis zu einem Zerfall Russlands führen wird und nach ihm zum Fall derer, die mit ihm zusammen sind, nun von uns unter anderem. Und wollen wir gar nicht.

— Was ist mit Alexej Nawalnyj und seiner „Klugen Abstimmung“?

— Was Alexej Nawalnyj betrifft. Wenn er und seine Mitkämpfer Menschen zum Protest aufrufen, dann sagen sie nichts über politischen Orientierungen, nun jedenfalls habe ich das nicht gehört. Sie protestieren einfach, „bring diese Regierung zum Fall“. Gut, aber was kommt stattdessen? Welche Regierung werdet Ihr stattdessen einrichten, was werden ihre Prioritäten sein, auf welchen Grundlagen steht ihr – politisch, ökonomisch, sozial? Darüber sagen sie nichts und weil das nicht im Massenbewusstsein ist gibt es kein Verständnis, was später kommen wird.

Das Protestpotential ist ausreichend, die Proteststimmungen sind in Russland sehr stark. Aber das Publikum, das auf die Kundgebungen Nawalnyjs geht, kann sich nicht hinter die Kommunisten stellen, weil seit etwa 30 Jahren eine antikommunistische Weltanschauung in die Köpfe gepaukt wird. Aber man muss sich hinter jemanden stellen, das Protestpotential muss realisiert werden, also stellen sie sich hinter Nawalnyj. Aber ich bin oft in Russland – in Moskau, in Sankt Petersburg, in Rostow, in Woronesh – und natürlich sehe ich, das viele neue Menschen, junge Menschen, recht kompetente zur KPRF kommen. Deshalb kann man nicht sagen, dass die Partei sich nicht erneuert. Die Menschen und besonders die Jugend, kommen mehr und mehr zu einem Verständnis ihrer Interessen, darunter auch den klassenmäßigen. Andere Alternativen gibt es nicht, außer als in den Reihen der KPRF oder gemeinsam mit der KPRF zu kämpfen. Deshalb, zurück zu Nawalnyj, mir scheint, dass alles, was er tut, ist ein Abzug von Menschen von einer linken Kehrwendung in Richtung eines Schwenks nach rechts. Das heißt, wenn man im ganzen über seine Politik, seine Strategie spricht.

Was die „Kluge Abstimmung“ betrifft, so hat diese Technologie zweifellos teilweise funktioniert. Ich will nicht sagen, dass das in einem absoluten Maße der Fall ist, aber in einem bestimmten, ja das hat das Ergebnis nicht nur für die KPRF, sondern auch für „Jabloko“, für „Gerechtes Russland“, unterstützt, wenn wir den Moskauer Stadtrat nehmen. Die „Kluge Abstimmung“ hat Stimmen von der Regierungspartei abgezogen, obwohl niemand vom „Einigen Russland“ in den Moskauer Stadtrat gekommen ist, alle kamen als unabhängige Kandidaten, aber dennoch hat Nawalnyj wohl zu einem gewissen Grad Stimmen von ihnen abgezogen. Aber wenn man den Beginn „Kluge Abstimmung“ verwendet, so wäre es angebracht zu sagen, dass kluge Menschen sowieso für die Kandidaten der KPRF gestimmt haben. Sie haben die Programme der Kandidaten gelesen und ihnen ist alles klar. Aber die, die nichts wissen wollen, die nicht klug sind, die saßen zu Hause und sind nicht zu den Wahlen gegangen. Aber im ganzen so scheint mir, wird die Bevölkerung klüger und es wird Ergebnisse geben. Ich möchte, dass die Menschen bei uns in der DVR klüger werden.

Aus meiner Sicht war der einheitliche Wahltag am 8. September auch eine Probe für die Duma-Wahlen 2021. In der Duma wird auch eine bestimmte Konfiguration von Kräften entstehen, dann die Präsidentschaftswahlen 2024, wo eine Antwort auf die Hauptfrage zu geben sein wird – was wird nach Putin sein. Und wird Putin selbst bleiben. Das hießt, der Sommer 2019 ist eine Probe und Vorbereitung für die Wahlen in den Jahren 2021 und 2024.

Und einer der für uns wünschenswerten Varianten der Entwicklung der Ereignisse bis 2024 ist, wie ich schon sagte, die Eurasische Union und die LDVR als deren Bestandteil. Deshalb ist es für Russland notwendig, uns jetzt nicht in Richtung Ukraine zurückstoßen, sondern muss uns zu sich ziehen, genau wie alle übrigen, die sich an ihm orientieren.

Und zurück zu den Ergebnissen der KPRF, auf sie hat die Arbeit der Kandidaten der Partei selbst eingewirkt. Eine planmäßige, angespannte und sehr schwierige Arbeit.

— Warum schwierig?

— Die letzte Woche vor den Wahlen habe ich in Moskau verbracht, ich habe an verschiedenen Veranstaltungen dort teilgenommen, hier ist ein Beispiel. Es stehen dort sechs Fahrzeug von KPRF-Kandidaten für den Moskauer Stadtrat, am Abend werden sie auf eine kostenpflichtigen Parkplatz abgestellt. Am morgen kommt man – alles ist abgerissen, zerschlagen, die Plakate alle zerfetzt. Man befragt die Wachleute zum Geschehen, sie antworten, dass sie nichts gesehen haben, nichts wissen. Die Polizei reagiert auf nichts. Das heißt, der Widerstand war sehr stark. Pseudoparteien, wie die „Kommunisten Russlands“, Pseudoparteien, die von der Staatsmacht erdacht sind, um Stimmen von der KPRF abzuziehen. Plötzlich, woher auch immer, haben sich bei ihnen alle Unterschriften als korrekt erwiesen und Geld für die Agitationskampagne gibt es im Überfluss, das hießt, die Behörden haben ihnen die Möglichkeit gegeben, Stimmen von der KPRF abzuziehen. Oder wenn in den Wahlkreisen gegen die Kommunisten nicht nur Personen mit gleichem Nachnamen aufgestellt werden, sondern sogar mit dem gleichen Vornamen, sagen wir mal. Auf der einen Seite sind das lächerliche, primitive, aber auf der anderen Seite wirksame Technologien. Und all diese Technologien haben bei diesen Wahlen gegen die KPRF gearbeitet.

— Boris Alexejewitsch, trotz des Erfolgs der KPRF bei den Wahlen in den Moskauer Stadtrat in diesem Jahr halten viele Menschen den Kommunismus für überlebte Vergangenheit, vor allem die Jugend, die vor allem protestmäßig abgestimmt hat. Gibt es aus Ihrer Sicht für den Kommunismus als Ideologie und für Parteien, die diese Ideologie vertreten, in der heutigen Welt eine Zukunft? Und wenn es sie gibt, was für eine?

— Was die politischen Ansichten der Jugend betrifft, so bemühen sich die heutigen Staaten darum, aus der Jugend, ja aus der ganzen Bevölkerung eine apolitische Masse zu machen. So wird es einfacher sein, die Welt zu lenken. Aber die Welt entwickelt sich nach bestimmten Gesetzen. Früher oder später löst eine Formation die andere ab. Die globale imperialistische Formation wird unausweichlich von einer anderen Formation abgelöst werden und als eine Variante wird das die kommunistische Formation sein, in dieser oder jener Form. Die Widerspräche, die die heutige Welt zerfressen, sind schon zu einem äußersten Punkt getrieben. Die Epoche der Übernahme ist beendet, auf dem Planeten ist schon alles übernommen. Sich auf friedlichem Weg auszubreiten (etwas zu übernehmen) geht nirgends mehr und mit fast nichts, jetzt bleibt eine Ausbreitung mit Hilfe des Krieges. Das heißt, der heutige Weg des imperialistischen Globalismus unter Erhalt dieser Formation ist ein Weg des Krieges, ein Weg der Eroberungen. Es ist der Weg des Neokolonialismus. Einen immer größerer Anteil der weltweiten Industrieproduktion nimmt China ein, ihm folgt Indien, das sind Länder mit mehr als einer Milliarde Bevölkerung und vornehmlich mit linken Sichtweisen. Die Bevölkerung der Erde wächst schnell. Und all diese Länder brauchen mehr und mehr Ressourcen. Und der globale Imperialismus sieht das, deshalb ist für der Ausweg, die einen zu ersticken, die anderen zu erobern und die Ressourcen zu seinem Nutzen umzuverteilen. Das ist Krieg. Vom Blickpunkt der Kommunisten gibt es genug Ressourcen, wenn sie rational, planmäßig genutzt werden. Wenn die Ressourcen rational genutzt werden und nicht einem übermäßigen Konsum nachgejagt wird, so reichen sie noch für Jahrhunderte, selbst für Jahrtausende. Deshalb ist ein kommunistische Wende, eine linke Wende ein Wende zum Frieden, zur Gerechtigkeit, zur Rationalität und zu einer vernünftigen Zurückhaltung, zu einem gesellschaftlich anerkannten Vertrag, Solidarität und Entwicklung der Grundlagenforschung und der Überwindung von Hindernissen – ökologischen Problemen insbesondere. Das heißt, es ist eine Konsolidierung der Anstrengungen für das Wohlergehen aller Menschen auf dem Planeten, nicht für einen auserwählten Teil der Elite, sondern für alle, die mit ihrer Arbeit die materiellen und geistigen Werte für vernünftige Bedürfnisse schaffen. So existieren also zwei Wege, entweder der Individualismus in seiner imperialistischen Verpackung – alles nur für sich (alles – das heißt im globalen Maßstab), oder Kollektivismus und das Bestreben eine gerechte Gesellschaft aufzubauen, im Idealfall eine kommunistische. Und eine gerechte Verteilung der Güter unter allen für das Wohlergehen aller Völker auf dem Planeten, ist unsere mittelfristige Aufgabe der Menschheit. Einer der Schritte zu einer gerechten Weltordnung – zu einem rationalen, vernünftigen Leben auf dem Planeten – ist nun eine multipolare Welt, wo jedes Volk nach seinen Gesetzen, Ordnungen, von seinen Ressourcen lebt, und nicht wie jetzt, wo alle Ressourcen des Planeten in den Händen eines sehr begrenzten Häufleins von Menschen sind. Und das ist nicht nur auf globaler Ebene so, so geschieht es auch auf der Ebene von Ländern – ausgewählte Personen (Oligarchen) erhalten alle Güter, die vom Volk geschaffen werden, und die Bevölkerung des Landes kratzt alles zusammen, um zu überleben. So ist es in Russland und jetzt sogar in der DVR. Und wir wollen so nicht mehr leben. Um nicht so zu leben, um aus dieser Falle herauszukommen, ist eine linke Wende notwendig, die hilft, nicht nur Russland zu erhalten, sondern die Welt im ganzen. Wenn sie nicht stattfindet, werden die Probleme nicht verschwinden, sie werden einen Ausweg zu ihrer Lösung suchen und dann erwartet uns ein Schwenk nach rechts. Mit allen darauf resultierenden Folgen, die offensichtlichste davon ein Krieg aller gegen alle.

Quelle: „Antifaschist

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